Das Letzte, das Timmy sah

C'era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, IT/FR 1968, Sergio Leone)

DVD Paramount Pictures © original copyright holders.


Das erste Mal ist bekanntlich immer etwas Besonderes. Wer aber diesen Moment erstmalig im Kino erlebte, musste überwältigt sein – denn es trifft einen vollständig unvorbereitet.

 

Mein erstes Mal ereignete sich im Ostberliner Erstaufführungskino „Kosmos“ – once upon a time in the east – im Sommer 1981. Die Partei hatte beschlossen, ihre Untertanen seien nun nach dreizehn Jahren reif für ein in anderen Teilen der Welt seit 1968 längst zum Klassiker avanciertes  Filmepos: Spiel mir das Lied vom Tod. In diesem Fall hatte man ihm sogar den reißerischen westdeutschen Verleihtitel belassen.

Nun war der große, repräsentative Vorplatz des Lichtspielhauses endlich einmal von Nutzen: Hier verlief über Wochen, ja Monate die lange Schlange der Interessenten an einer Eintrittskarte – unter ihnen auch ich als neunzehnjähriger Filmenthusiast. Ich war gespannt; allerdings meinte ich in meiner Hybris, die wesentlichen Klassiker der Filmkunst bereits hinter mich gebracht zu haben. Wie sehr ich mich getäuscht haben sollte!

 

Ich wurde in einen regelrechten Strudel gerissen. Noch immer unter Schock stehend angesichts des einzigartigen, viertelstündigen Vorspanns, blieben mir nur wenige Minuten des Atemholens während der Darstellung des harmonischen Familienlebens der Farmersfamilie McBain, bevor es ganz dick kommt: Draußen fallen Schüsse. Drinnen im Haus laute Schritte. Laufen über die Holzdielen. Der Blick der subjektiven Kamera erfasst das Licht im Türrahmen. Dann sehen wir ihn in im grellen Licht stehen: Timmy McBain (Enzo Santaniello, ein siebenjähriger Junge aus Neapel), blinzend, ungläubig dem Unfassbaren gegenüber, das er sieht. In dieser Sekunde setzt die Musik ein – ohne Warnung, mit voller, unbändiger Wucht. Und vor der Kamera entwickelt sich eine der berühmtesten ikonographischen Szenen der Filmgeschichte.

Aber ihren Anfang nahm sie mit dem Blick des Jungen. Und mit Morricones Einsatz.

 

Am Beginn der Dokumentation Der Klang der Bilder von Marcus Rosenmüller (DE 1995) über die Geschichte der Filmmusik wird diese Szene gezeigt – allerdings ohne die Musik. Der Kontrast könnte nicht größer sein.

 

Der Neunzehnjährige im Kinosaal: Spätestens in diesem Augenblick wird ihm bewusst: Hier kommt etwas ganz Großes auf ihn zu. Und seine (Film-)Welt wird nicht mehr dieselbe sein wie zuvor.

 

Ich habe in jenem Sommer noch ungefähr ein Dutzend Mal in der Schlange gestanden.

 

Michael Striss, Theologe und Autor (u.a. Gnade spricht Gott – Amen mein Colt. Motive, Symbolik und religiöse Bezüge im Italowestern) mit großer Leidenschaft für den Film, seit sein Großvater den Enkel in die verbilligten Rentnervorstellungen mitnahm; Schwerpunkt: 1960er und 1970er Jahre, vor allem das italienische Genrekino.